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wr-@gmx.net
 
wr, december 2001 english

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"my name is legion, for w r many"

wr ist eine Basis für Erkundungen und Unternehmungen im Bereich zwischen Kunst und Politik. Dabei werden verschiedenste Felder und Medien bearbeitet; die thematische Vielfalt, die zeitliche wie personelle Streuung der Beschäftigung stellt den Versuch einer Flucht vor Vereinzelung und Spezialisierung dar.
Der Versuch wr wird von einer Gruppe von Künstlerinnen und Aktivistinnen unternommen, die eine heterogene Gemeinschaft von immateriellen Arbeiterinnen bilden.
Ziel ist nicht zuletzt die Ausschaltung einer repräsentativen individuellen Autorinnenschaft: es geht jedoch nicht nur um eine theoretische Auseinandersetzung, sondern vor allem um die alltägliche Bekämpfung eines zentralen Herrschaftsinstruments, das die Konstruktion des (In)dividuums darstellt.
wr als Name steht für: nichts. wr als Gruppe steht dafür, daß wir keine Poptheoretikerinnen, ruhiggestellte Galeriekünstlerinnen oder dressierte Kulturpreisaffen werden wollen. Im Gegenteil führt unser Projekt fort, was schon andere Projekte kollektiver Autorinnenschaft auszeichnete: radikale Formen und Inhalte, Heteronyme und gleitende Identitäten, Taktiken der Kommunikationsguerilla...
Unsere Ansage in Richtung Anonymität wird lauten: "sich zeigen, ohne zu erscheinen; dem Diskurs transparent, den Spektakeln entrückt; den Rezipientinnen zugänglich, den Medien aber undurchsichtig zu sein". Dies hat nichts mit pathologischem, die Autorin erst recht wieder mystifizierendem Anonymitätswahn à la Netochka Nezvanova (oder Pynchon) zu tun. wr werden uns an der Öffentlichkeitsarbeit für unsere Produkte beteiligen, ohne abgenutzte kameragesteuerte Prominenten-Suchspiele zu bedienen. Dem allerorts üblichen Begehren nach individuellen Personen wird sich wr verweigern und verlangen, daß statt der Gesichter und Namen der einzelnen die zwei Buchstaben w und r und sonst nichts als repräsentative Einheit in die Leerstelle "Autorin" eingefügt wird.
wr's Modell kultureller Produktion richtet sich gegen idealistisch-romantische Vorurteile vom "Genie", individueller "Inspiration" und dergleichen Quatsch mehr. wr befördern die Krise des Copyright-Prinzips. wr glauben nicht an den Privatbesitz von Ideen. Wie auch bei anderen Formen der kollektiven Identität wird jedes Produkt von wr, egal in welchem Medium, Copyright-frei sein, mit jeweils solchen Spezifikationen und Einschränkungen, die wr als Massnahmen gegen corporate takeovers für nötig halten.
Daß ein solches Unternehmen geistiger Arbeit, dem typischsten Gegenstand also des postfordistischen Kapitals, die Mythen, Rituale und Überbleibsel des geistigen Eigentums überwinden will, ist ein fruchtbarer Widerspruch, der neoliberale Scheingefechte wie "Open Source" weit hinter sich lässt.


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Wir könnten uns als autonomes politisches Unternehmen bezeichnen.
Als "Unternehmung" haben wir jedoch keine rechte Freude mit dem Spiel mit dem Vokubular der Ökonomie, wir glauben nicht an eine solche Subversion des pankapitalistischen Imperativs. Als Freelancer selbständig zu arbeiten, reicht natürlich nicht aus. Wir müssen stärker werden und in der Gemeinschaft Kontrolle über den Produktionsprozess und die Ergebisse unserer kreativen Arbeit gewinnen.
Genauswenig geben wir aber jene Organisiertheit vor, die an corporate monsters so faszinieren mag. Wir wollen nicht verschleiern, dass wir uneinstimmig sind und permanent scheitern. wr wird es nicht ewig geben, aber unsere Kontinuität wird bestehen. Wir sind auch keine militärische Einheit, und das Gezeter der Vielheit wird unser Schlachtgesang.
"Autonom" würde wir unser Agieren gerne sehen, aber wir wollen nicht verschweigen, wie weit wir in allen möglichen Machtstrukturen verstrickt sind und aus welcher Herrschaftspraxis sich auch unser Handeln mitunter herleitet. Wir schwanken überhaupt in der permanenten Verzweiflung zwischen Determination und Selbstbestimmung, mit dem festen Glauben, dass wir in der Bestimmtheit des sozialen Kontexts emanzipativ agieren können.
"Politisch" sind wr allemal, weil es in der Kultur seit langem nicht mehr "die Intellektuelle" gibt, die unabhängig von der Gesamtheit der Produktion (und der niemals autonom gewesenen Politik) wäre. Heute ist Information die wichtigste Produktivkraft. Jene Maschine, die wir früher "Kulturindustrie" nannten, ist mit einer ganzen Galaxie von Waren und Dienstleistungen symbiotisch verbunden. Alles ist Multimedia, die Unterscheidung von "humanistischem" und "technischem" Wissen hinfällig. Welchen privilegierten Status kann eine "Künstlerin" heute noch behaupten, wenn Kunstproduktion nur eine von vielen Spielarten geistiger Arbeit ist, jenes größeren sozialen Arbeitszusammenhangs also, der Softwareprogrammierung, Industriedesign, Journalismus, Geheimdienstarbeit, Sozialdienste, Geschlechterpolitik usw. integriert?
Daraus folgt, daß es die alte Option, als "Künstlerin" und "Theoretikerin" politisch "engagiert" zu sein, nicht mehr gibt. Geistige Arbeit ist nicht nur Teil der Produktionsnetzwerke, sondern vielmehr deren Hauptantriebskraft. "Kreativen Arbeiterinnen" bleibt daher keine Wahl. Sie können sich nicht darum drücken einzugreifen. Kunst schaffen ist Teil der Produktion, Erzählen ist Politik. Nun gilt es, sich zwischen denen zu entscheiden, die dies begriffen haben und den Massen der bewußten oder unbewußten Reaktionärinnen.


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Für welche Plots und Medien interessieren sich wr?
Wir kippen in alle möglichen Technologien, Kameras, Pinsel, Atome, Tastaturen, DNA... Unsere Irrfahrten werden begleitet von Schwärmen aus Theoremen. Wir können uns nicht einigen, welcher Faszination wir den Vorzug geben: direct action, Datenbanken, Landschaften, Sound, &c. Unser Feuer lodert in unterschiedlichsten Intensitäten, ein oszillierendes Spektrum, eine Realtime Abbildung sozialer Gefüge.
wr, als unsere Maschine, verarbeitet den Brand und nährt ihn.
Wichtig ist es, Lichtjahre Entfernung zwischen uns und der bürgerlichen Kultur zu halten: Die echte Protagonistin der Geschichte ist weder der große Mann, noch die nomadische einzelne, sondern - ganz im Gegenteil - die namenlose Menge in den zweiten und dritten Reihen, hinter ihnen oder durch sie die namenlos schwärmende Vielheit von Ereignissen, Schicksalen, Bewegungen und Umkehrungen: "Auf dem Fresco sind wir alle möglichen Figuren im Hintergrund. Im Mittelpunkt stehen der Papst, der Kaiser, die Kardinäle und die Fürsten Europas. An den Rändern die diskreten und unsichtbaren AgentInnen, die zwischen den Kardinälshüten und Kronen hervorlugen, aber die ganze Geometrie des Bildes im Lot halten, indem sie es füllen und, dieweil sie sich unerkannt halten, das Zentrum all den Köpfen überlassen."
Die Vielheit hat nichts zu tun mit den Massen, jenem homogenen Block, der mobilisiert wird oder als sonst "schwarzes Loch" aus Meinungsumfragen spricht. Die Vielheit ist "ein Horizont ausgestellter Körperlichkeit und wilder Multiplizität. Eine Welt der Interferenzen und physikalischen Kombinationen, Assoziationen und Disassoziationen, Fluktuationen und Materialisierungen, die - in perfekt geradliniger Logik - paradoxische Kreuzungen von Kausalität und Zufall, Tendenz und Möglichkeit erzeugt. Das ist die ursprüngliche Dimension der Vielheit".
wr möchten, zusammengefaßt, die Zusammenarbeit sowohl in der Form, als auch in der Substanz der immateriellen Produktion hochleben lassen: Die Macht der Vielheit ist zugleich Inhalt und Ausdruck unseres Handelns.